- Bern, Politik, Verkehr - Thomas Schaumberg
Verkehrspolitik: Experten fordern radikales Umdenken
Verkehrspolitik: Experten fordern radikales Umdenken. Politik und Behörden in der Schweiz wollen das individuelle Mobilitätsverhalten vor allem über die Faktoren Preis und Zeit beeinflussen, etwa bei der Debatte über Pendlerabzüge, dynamische Billettpreise oder Parkplatzgebühren. Neueste Forschungsergebnisse belegen jedoch, dass der Mensch nach ganz anderen Kriterien entscheidet. Namhafte Experten fordern deshalb einen Paradigmenwechsel hin zu lösungsorientierten Ansätzen in der Verkehrspolitik, welche verhaltensökonomische Erkenntnisse miteinbeziehen.
Viele Faktoren beeinflussen Mobilitätsverhalten
An einer Fachtagung von Avenir Mobilité – einer Dialog-Plattform für intelligenten Verkehr – wurde das Thema Verhaltensökonomie & Mobilität intensiv mit namhaften Experten und Podiumsteilnehmern diskutiert. Diese kamen zum Schluss: Die Möglichkeiten der Verhaltensökonomie zu nutzen ist nicht einfach ein «nice to have», sondern ein «must have».
Doch ausgerechnet die Verhaltensökonomie wurde in der bisherigen Mobilitätsforschung praktisch ignoriert. Die klassische Forschung ging davon aus, dass sich das individuelle Mobilitätsverhalten hauptsächlich über die Faktoren Preis und Zeit beeinflussen lässt. Entsprechend fokussierten sich die Forscher im Wesentlichen auf die Frage, wie sich die Änderung dieser beiden Faktoren auf die Verkehrsmittelwahl der Bevölkerung auswirkt. Nun haben renommierte Verhaltensökonomen bewiesen: Diese Forschung führt auf den Holzweg. «Die Mobilitätspolitik kann nur dann wirksame Lösungen finden, wenn sie die Ursachen und Zusammenhänge des tatsächlichen Verhaltens der Menschen berücksichtigt.» (Luca Geisseler, Experte für angewandte Verhaltensökonomie & CEO FehrAdvice).
Die empirische Verhaltensforschung belegt, dass der Mensch auch nach ganz anderen Kriterien als Preis und Zeit entscheidet. So spielen beispielsweise kontextuelle Faktoren wie Wetter oder Wochentag, individuelle Faktoren wie die Art der Aktivität (Freizeit oder Beruf, Einkaufen oder Ausgehen), Gewohnheiten sowie psychologische Faktoren wie Freiheitsdenken oder das Bedürfnis nach grösstmöglicher Flexibilität eine massgebliche Rolle. Solche gewichtigen Entscheidungskriterien werden jedoch noch kaum in die politische Debatte einbezogen, was leider zu einer systematischen Fehleinschätzung der Wirksamkeit von Preis- und Zeit-Anreizen führt. Führende Verhaltensökonomen fordern deshalb ein radikales Umdenken in der Mobilitätsforschung, der Mobilitätspolitik und der Mobilitätspraxis.
Hohe Treibstoffpreise zeigen kaum Wirkung
Das bekannte Paradigma von Zeit und Geld als Steuerungshebel des Mobilitätsverhaltens ist überholt. Ein konkretes Beispiel: Nach Ausbruch des Ukrainekriegs 2022 lagen die Treibstoffpreise 30 Prozent über dem Vorjahres-Niveau, was einen historischen Anstieg bedeutet. Im Gegensatz dazu haben sich die Preise für den öffentlichen Verkehr im selben Zeitraum kaum verändert. Wenn Preise die Wahl des Verkehrsmittels im Einkaufsverkehr wesentlich beeinflussen würden, dann sollte das gemessene Verkehrsaufkommen in Zeiten höherer Preise zurückgehen und in Zeiten niedrigerer Preise ansteigen. Der Vergleich der monatlichen Treibstoffpreise mit dem Verkehrsaufkommen für Einkäufe laut Google Mobility Reports und mit den Einfahrten in die Parkhäuser grosser Schweizer Einkaufszentren zeigt allerdings keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Preisanstieg und Verkehrsaufkommen. Selbst eine Preissteigerung von bis zu 30 Prozent hat keinen nachweisbaren Effekt auf den Einkaufsverkehr.
Würden Menschen – entsprechend der Theorie vom homo oeconomicus – Geld und Zeit als wichtigste Faktoren wahrnehmen, so hätte das Verkehrsaufkommen bedeutend sinken müssen. Diese Erkenntnisse liefert eine aktuelle Studie von FehrAdvice & Partners mit dem Titel Neue Evidenz zum Mobilitätsverhalten beim Einkaufsverkehr (2023), deren Co-Autor Luca Geisseler ist.
„Experten fordern lösungsorientierte Ansätze in der Verkehrspolitik, welche verhaltensökonomische Erkenntnisse miteinbeziehen, statt unwirksame oder gar kontraproduktive Verbote und Restriktionen.“
Forderung nach Paradigmenwechsel bei Forschung und Politik
Aufgrund der neuen Erkenntnisse müssen zukünftige verkehrspolitische Entscheide wissenschaftlich belegt sein und dürfen nicht auf unbewiesenen Annahmen zum menschlichen Verhalten beruhen. Dies eröffnet auch neue Handlungsspielräume für innovative Wege, das Verkehrsverhalten der Menschen positiv zu beeinflussen. Die Experten fordern lösungsorientierte Ansätze in der Verkehrspolitik, welche verhaltensökonomische Erkenntnisse miteinbeziehen, statt unwirksame oder gar kontraproduktive Verbote und Restriktionen. Die Verhaltensökonomie bietet interessante Lösungsansätze, um einen Paradigmenwechsel einzuleiten – und damit wirksamere Mobilitätskonzepte für die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen zu entwickeln. Die Behörden, die Politik und letztendlich in Rechtsverfahren auch die Gerichte, sind somit gefordert. Statt ein «Immer weiter so», ist ein radikales Umdenken gefordert. Profiteure werden die Umwelt, die Menschen und die Wirtschaft sein. Dies ist gelebte Nachhaltigkeit!
Weiterführende Informationen zum Artikel “Verkehrspolitik: Experten fordern radikales Umdenken“
FehrAdvice & Partners AG: Neue Evidenz zum Mobilitätsverhalten beim Einkaufsverkehr. Eine verhaltensökonomische Studie zur Verkehrsmittelwahl beim Einkaufen
Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK: Grundsätze der Verkehrspolitik
Die Volkswirtschaft, 24.09.2018, Autor Matthias Sutter: Mobilität neu denken
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