- Politik, Steuern - Pierre-Gabriel Bieri
Individualbesteuerung: Die falsche Antwort auf ein echtes Problem
Individualbesteuerung: Die falsche Antwort auf ein echtes Problem. Um die Ungerechtigkeit gegenüber Ehepaaren bei der direkten Bundessteuer zu korrigieren, scheint der Bund nun die Individualbesteuerung zu bevorzugen, die auch von den Kantonen übernommen werden soll. Diese Entscheidung ist fragwürdig: Sie wäre kompliziert und langwierig in der Umsetzung, administrativ aufwändig und nicht geeignet, alle Ungleichbehandlungen zu beseitigen.
Der Bund hat vierzig Jahre lang gezögert
Das Eidgenössische Finanzdepartement hat in den letzten Monaten einen Gesetzesentwurf zur Einführung der Individualbesteuerung von Ehepaaren sowohl auf Bundes- als auch auf Kantonsebene in die Vernehmlassung geschickt. Dazu müsste nicht nur das Gesetz über die direkte Bundessteuer (DBG), sondern auch das Gesetz über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG) geändert werden. Damit würde einer Forderung des Parlaments entsprochen und gleichzeitig ein indirekter Gegenvorschlag zu einer bereits eingereichten Volksinitiative, welche die Individualbesteuerung von Ehepaaren fordert, geschaffen. Eine zweite Volksinitiative, die im Gegenteil die gemeinsame Besteuerung fordert, wurde lanciert, aber noch nicht eingereicht.
Die Individualbesteuerung würde einen kompletten Paradigmenwechsel gegenüber dem derzeitigen Prinzip darstellen, bei dem die Ehegatten als Wirtschaftsgemeinschaft gemeinsam besteuert werden. Die Begründung für einen solchen Wechsel liegt im Willen, die Ungerechtigkeit zu korrigieren, welche Ehepaare bei der direkten Bundessteuer (DBST) trifft: Aufgrund der sehr starken Progression der DBST wird das addierte Einkommen beider Ehegatten zu einem viel höheren Satz besteuert, als wenn es sich um zwei getrennt besteuerte Einkommen handeln würde. Die Ungerechtigkeit einer solchen Ungleichbehandlung wurde vom Bundesgericht bereits im Jahr 1984 festgestellt, was die Kantone dazu veranlasste, verschiedene Korrekturen in ihren Steuersystemen einzuführen (Splitting, Familienquotient usw.). Der Bund hingegen hat nichts unternommen, und seit fast vierzig Jahren sind alle Versuche, die DBST zu korrigieren, in den Irrungen und Wirrungen politischer Ränkespiele untergegangen.
Dieser Hintergrund wirft eine erste Frage auf: Ist der Bund legitimiert, eine Umwälzung der 26 kantonalen Steuersysteme zu verlangen (die bestenfalls erst nach vielen Jahren erfolgen würde), um ein Problem zu lösen, das eigentlich nur die DBST betrifft?
Abschaffung der DBST oder Ersatz durch eine Flat Tax?
Wenn man bereit ist, radikale Lösungen in Betracht zu ziehen, sollte man als Erstes die Abschaffung der DBST in Betracht ziehen, die quer in der schweizerischen Steuerlandschaft steht. Diese ideale Option ist im aktuellen Zusammenhang leider unrealistisch. Eine zweite radikale Lösung wäre die Abschaffung der (ohnehin zu starken) Progression der DBST und die Einführung einer „Flat Tax“. Aber auch eine solche Idee hat wenig Chancen, in der Politik grossen Anklang zu finden. Weshalb also nicht dem von den Kantonen vorgezeichneten Weg folgen und ein Korrektiv in Form eines Splittings oder, noch besser, eines Familienquotienten (nach dem Waadtländer Modell, aber mit Vollsplitting und ohne Obergrenze) einführen? Eine solche Änderung wäre relativ einfach umzusetzen und entspräche dem angestrebten Ziel.
Stattdessen scheint der Bund heute die Individualbesteuerung zu bevorzugen, die unter dem Vorwand der Einfachheit erhebliche Probleme mit sich bringt.
Ein erstes Problem ergibt sich daraus, dass ein Paar, ob verheiratet oder nicht, eine Gemeinschaft bildet, deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht genau die Addition der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zweier alleinstehender Steuerpflichtiger ist, dies umso mehr, wenn Kinder vorhanden sind. Die Verfasser des sich in der Vernehmlassung befindlichen Gesetzesentwurfs sind sich dessen bewusst, da sie vorschlagen, neue Abzüge für Alleinstehende, Eltern, Alleinerziehende und sogar als Option für verheiratete Paare mit nur einem Einkommen oder mit einem geringen zweiten Einkommen einzuführen. Letzterer Vorschlag wird von denjenigen bekämpft, die beide Ehepartner zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermutigen möchten. Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass die Zunahme von Abzügen, die bestimmten Kategorien von Steuerzahlern vorbehalten sind, einer guten Steuerpraxis zuwiderläuft.
„Kann der Bund verlangen, alle 26 kantonalen Steuersysteme umzukrempeln, um ein Problem zu lösen, das nur die DBST betrifft?“
1,7 Millionen zusätzliche Steuerdossiers
Die Individualbesteuerung wirft noch weitere Schwierigkeiten auf, insbesondere die individuelle Bestimmung der gemeinsamen Einkünfte und des gemeinsamen Vermögens der Ehegatten, die Auswirkungen auf andere Rechtsbereiche und Sozialversicherungen, in denen das Ehepaar weiterhin als eine spezifische Gemeinschaft betrachtet wird, oder die 1,7 Millionen zusätzlichen Steuerdossiers, die von den kantonalen Verwaltungen bearbeitet werden müssen.
Die Auswirkungen auf die Beschäftigung (Förderung der Doppelerwerbstätigkeit von Ehegatten, um den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden) wären nach den Schätzungen des erläuternden Berichts zur Vernehmlassungsvorlage sehr bescheiden: Im besten Fall würde man in der Schweiz kaum mehr als 1% zusätzliche Vollzeitäquivalente schaffen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Steuer gemäss dem Grundsatz der Steuerneutralität nicht dazu gedacht ist, die Lebensweise von Paaren zu beeinflussen.
Die derzeitige Situation ist unbefriedigend, darüber sind sich alle einig, und niemand fordert den Status quo. Aber unter den verschiedenen Lösungen zur Korrektur der DBST ist die vom Bundesrat vorgeschlagene Lösung mit Sicherheit eine der schlechtesten. Es ist unerlässlich, die Arbeit wieder aufzunehmen und bessere Wege zu beschreiten.
Weiterführende Informationen zum Beitrag “Individualbesteuerung: Die falsche Antwort auf ein echtes Problem“
SRF News 02.12.2022: Gegen die “Heiratsstrafe“
SRF News 06.05.2022 : “Willst du mich heiraten oder steuern sparen“
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