- Energie & Umwelt, Parlament, Politik, Wirtschaft - Pierre-Gabriel Bieri
Die Schweiz braucht mehr Strom

Die Schweiz braucht mehr Strom. Die Sicherheit unserer Stromversorgung ist mit technischen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen verbunden. Es geht darum, sich auf einen Energiemix zu stützen, der keine Produktionsform verbietet oder bevorzugt und somit die Tür für Kernkraftwerke der vierten Generation nicht verschliesst. Zudem gilt es, unnötige Regulierungen zu vermeiden und die Schweiz nachhaltig in das europäische Stromnetz zu integrieren.
Strom: Die Produktion kann mit dem Verbrauch kaum Schritt halten
Es ist schwer, sich an die Ängste zu erinnern, die die Schweiz vor zwei Jahren angesichts der Gefahr einer Stromknappheit erschütterten. Seitdem wurden Massnahmen ergriffen, die Winter sind nicht zu hart, die französischen Kernkraftwerke laufen… Ist das Thema damit erledigt? Nein, und man kann den Schweizerischen Gewerbeverband (SGV) dazu beglückwünschen, dass er seine Winterkonferenz letzte Woche in Klosters dem Thema Energie gewidmet hat. Die Anliegen der Fachleute verdienen es, einem breiteren Publikum bekannt gemacht zu werden.
Aus den verschiedenen Vorträgen, die bei dieser Gelegenheit gehalten wurden, lässt sich ein Überblick über die Situation gewinnen. Energie ist ein zentrales Thema in unseren modernen Gesellschaften. Sie ist für unsere Aktivitäten und unsere Lebensqualität notwendig. Natürlich müssen wir lernen, sie intelligent und massvoll zu verbrauchen, aber wir müssen auch Wege finden, mehr davon zu produzieren. Insbesondere geht es darum, mehr Elektrizität zu erzeugen, nicht nur, weil sie unseren Verbrauch „dekarbonisiert“, sondern auch, weil sie im Allgemeinen eine bessere Effizienz bietet (ein zu grosser Teil der Energie, die wir derzeit verbrauchen, geht ungenutzt verloren).
Die Energiewende, zusammen mit dem Wachstum unserer Wirtschaft, bedeutet, dass der jährliche Strombedarf in der Schweiz (heute etwa 60 TWh) weiter steigen wird (potenziell auf 87 TWh im Jahr 2050). Unsere derzeitigen Produktionskapazitäten entsprechen im mehrjährigen Durchschnitt in etwa unserem Verbrauch. Die Aussicht auf die schrittweise Abschaltung unserer Kernkraftwerke (die etwa 20% des von uns verbrauchten Stroms produzieren) stellt uns jedoch vor eine Herausforderung: Werden Solar- und Windkraftanlagen sowie andere „neue erneuerbare Energien“ die Kernkraft ersetzen können? Oder müssen wir uns auf den Import von Strom aus dem Ausland verlassen, um eine Stromlücke von mehreren Jahren zu schliessen? Neben den jährlichen Schätzungen ist es auch notwendig, nach Jahreszeiten zu denken, denn es zeigt sich, dass wir vor allem im Winter grosse Stromlücken haben – wenn wir weniger produzieren, aber mehr verbrauchen.
Atomenergie: eine neue Generation mit Potenzial
Die Sicherheit unserer Energieversorgung stellt uns daher vor technische Herausforderungen, die die Entwicklung neuer Produktionskapazitäten, die Optimierung bestehender Kapazitäten und Innovationen bei der Energiespeicherung betreffen. Sie stellt uns auch vor politische Herausforderungen, da wir kluge und gleichzeitig akzeptable Entscheidungen treffen müssen. Schliesslich stellt sie auch wirtschaftliche Herausforderungen dar, denn die Energiewende verspricht, teuer zu werden. Die Schweiz, die bereits hohe Produktionskosten hat, insbesondere aufgrund der Arbeitskosten, kann sich eine Explosion ihrer Energiekosten nicht leisten.
Während jeder nach einer Lösung für diese schwierige Gleichung sucht, sind viele der Meinung, dass man der Kernenergie eine zweite Chance geben sollte. Laut den von einem ehemaligen Präsidenten der ETH Zürich vorgelegten Daten verursacht die Erzeugung von Atomstrom im Verhältnis zum gelieferten Strom die geringsten CO2-Emissionen (direkt und indirekt) und ist auch eine der sichersten Arten der Stromerzeugung (gemessen an der Zahl der Todesopfer). Dennoch erscheint der Bau eines neuen grossen Kernkraftwerks politisch (und vielleicht auch wirtschaftlich) unrealistisch zu sein, und auch die Verlängerung der Laufzeit bestehender Kraftwerke ist mit Investitionen verbunden, die zunehmend abschreckend wirken.
In diesem Zusammenhang wurde in einem der Vorträge in Klosters an die bevorstehende Einführung einer vierten Generation von Kernkraftwerken erinnert, die potenziell viel kleiner sein könnten (in einem oder mehreren Containern, so dass sie mit Lastwagen transportiert werden können) und Thoriumreaktoren verwenden. Diese Technologie, über die bereits seit einigen Jahren gesprochen wird, dürfte sich in jeder Hinsicht als optimal erweisen: Sichere Reaktoren, die nicht überhitzen können, reichlich Brennstoff auf allen Kontinenten, weniger Abfall, der leichter und schneller entsorgt werden kann, schnellerer und kostengünstigerer Bau und Rückbau. Solche Kraftwerke könnten den saisonalen Bedarf decken und müssten nicht unbedingt das ganze Jahr über laufen.
Leitlinien für die Schweizer Energiepolitik
Es ist noch unklar, ob diese neue Generation von Kernkraftwerken all ihre erstaunlichen Versprechungen einhalten wird. Angesichts der oben genannten Herausforderungen wäre es jedoch absurd, ihr keine Chance zu geben, sich zu bewähren. Daher sollte die Schweizer Gesetzgebung die Tür für den Einsatz dieser Technologie nicht verschliessen, die es vielleicht ermöglichen wird, Strom lokal, schnell, sauber und zu akzeptablen Kosten zu erzeugen.
Generell muss die Energiepolitik der Schweiz überdacht werden, damit sie wirklich effizient und wirtschaftlich tragbar ist. Wichtig ist vor allem, dass wir uns auf einen Energiemix stützen, indem wir keine Produktionsform verbieten oder bevorzugen. Gleichzeitig müssen Forschung und Innovation gefördert werden, da sie unsere grössten Trümpfe sind. Die öffentliche Hand sollte auf unnötige Regulierungen verzichten und es den Marktgesetzen überlassen, die Energieproduktion nach Rentabilitätskriterien und auf der Grundlage einer echten Kostentransparenz zu steuern. Schliesslich muss die Schweiz, während sie sich um einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad bemüht, optimal in das europäische Stromnetz integriert werden, das grössere und zu unserem Stromnetz ergänzende Möglichkeiten bietet.
Weiterführende Informationen zum Beitrag “Die Schweiz braucht mehr Strom”:
Gewerbliche Winterkonferenz Schweizerischer Gewerbeverband
Referat Prof. em. Dr. Lino Guzzella, ETH Zürich: Energieversorgung Schweiz – Der Versuch einer Auslegeordnung PDF