- Bern - Martin Troxler
Sozialversicherungen stärken – aber mit Augenmass!
Im Sozialversicherungssystem der Schweiz stehen zahlreiche Neuerungen kurz vor deren Umsetzung. Nebst der Abwicklung der neuen Corona Erwerbsersatzentschädigung wird dies die AHV-Ausgleichskassen operativ stark fordern. Die durch den Sozialausbau entstehenden Zusatzkosten treffen die Wirtschaft angesichts der drohenden konjunkturellen Eintrübung schwer. Daher ist zwingend eine Standortbestimmung angezeigt. Dazu gehört es auch, die nachhaltige Sanierung der Altersvorsorge in die Wege zu leiten.
Ausbau der Sozialversicherungen: zahlreiche Projekte in der Pipeline
Zählt man die laufenden Gesetzgebungsverfahren zusammen, welche sich zurzeit allein im Bereich der 1. Säule auf Stufe Parlament in der Pipeline befinden, kann man leicht den Überblick verlieren und sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier mit allzu grosser Kelle angerichtet wird. Nebst dem indirekten Gegenentwurf zur Vaterschaftsurlaubs-Initiative sind für 2021 auch die Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose, die EL-Reform und ein Betreuungsurlaub zur Pflege kranker Angehöriger zur Umsetzung vorgesehen. Darauf folgen weitere Projekte, deren Umsetzung für 2022 geplant oder noch offen sind, wie unter anderem das grosse Reformprojekt AHV 21, die Weiterentwicklung der IV oder die Einführung einer Adoptionsentschädigung. Nicht zu vergessen sind Neuerungen, welche bereits 2020 eingeführt werden, wie die Gewährleistung der Ergänzungsleistungen ehemaliger Verdingkinder und Administrativversorgter (in Kraft seit 1.5.2020) sowie die Änderung des Familienzulagengesetzes (Stichwort Ausbildungszulagen und Leistungen für arbeitslose alleinerziehende Mütter).
Ob all dieser geplanten Reformen im Sozialversicherungsbereich dürfen zwei Aspekte nicht ausser Acht gelassen werden. Erstens gilt es, die AHV-Ausgleichskassen, welche all diese Neuerungen umsetzen müssen, operativ nicht zu überfordern. Zweitens ist es notwendig, im Rahmen einer Gesamtsicht den Blick auf das grosse Ganze nicht zu verlieren. Angesichts der veränderten wirtschaftlichen Aussichten im Zusammenhang mit der Corona Pandemie und dem steigenden Druck auf die Finanzen unserer Sozialwerke ist das ein Gebot der Stunde.
Priorisierung und Staffelung bei der Umsetzung
Die AHV-Ausgleichskassen waren in den letzten beiden Monaten stark gefordert. Bis Mitte Mai haben sie fast 200’000 Anträge zur Corona-Erwerbsersatzentschädigung erhalten, welche im Rahmen der Notverordnung des Bundesrates über die Massnahmen bei Erwerbsausfall im Zusammenhang mit COVID-19 in Rekordzeit eingeführt worden ist, um die wirtschaftlichen Folgen für betroffene Unternehmen und Arbeitnehmende abzufedern. Mitte April erfolgte zudem eine Ausweitung auf indirekt betroffene Selbstständige.
Das Sozialversicherungssystem der Schweiz hat sich als Stabilisator in der Krise erwiesen und die AHV-Ausgleichskassen haben den Ansturm mit Bravour gemeistert. Die dezentrale Organisation in der Durchführung der ersten Säule hat sich einmal mehr bewährt. Das ist in Anbetracht der volkswirtschaftlichen Bedeutung, welche die Sofortmassnahmen für die Betroffenen spielten und immer noch spielen, nicht zu unterschätzen. Daneben hatten sie eine ihrer wichtigsten Aufgaben, die termingerechte Auszahlung von Renten, unter erschwerten Home-Office Bedingungen zu erbringen. Auch hier hat sich das bestehende System bewährt.
Angesichts der schwindelerregenden Liste der laufenden Gesetzgebungsverfahren in der ersten Säule mit den zahlreichen bereits für Anfang 2021 geplanten Neuerungen muss der Fokus einerseits auf dem Notwendigen und andererseits auf dem Machbaren liegen. Es gilt, die AHV-Ausgleichskassen operativ nicht zu überfordern und angemessene Umsetzungsfristen zwischen Weisungserlass und Inkraftsetzung einzuhalten, damit bei der Umsetzung die erforderliche Sorgfalt und Qualität gewährleistet werden kann. Eine Priorisierung und Staffelung der anstehenden Inkraftsetzungen ist daher angezeigt.
Im Fokus: Stabilisierung der AHV (AHV 21)
Bei all den angesprochenen Projekten gilt, dass die Kosten einzeln betrachtet vertretbar erscheinen mögen (ungeachtet der Frage, ob das Projekt auch einer unvoreingenommenen Kosten-Nutzen-Analyse standhalten würde). In der Summe führen sie aber zu einer deutlichen Mehrbelastung der Wirtschaft und damit zu einer Verteuerung der Produktionskosten. Und dies in Zeiten einer vor der Tür stehenden Rezession. Dessen sollte man sich bewusst sein.
Zum weiteren Ausbau der Sozialversicherungen ist unsere Haltung klar: Angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen, welche aufgrund der Pandemie drohen, muss sich der Sozialstaat auf das langfristig Finanzierbare und Wesentliche beschränken. Nun muss es darum gehen, die bestehenden Systeme der sozialen Sicherung in der Schweiz zu sichern, deren Kern zu erhalten und für zukünftige exogene Schocks robuster zu machen. Eine Steigerung der Resilienz wird allenthalben in verschiedensten Bereichen gefordert und es erklärt sich von selbst, dass dies auch für die Sozialversicherungen gelten muss.
Zur Erinnerung: das Umlageergebnis der AHV (Betriebsergebnis ohne Anlageerfolg) war 2019 mit -1.170 Milliarden tiefrot (2018: -1.038 Milliarden). Im Fokus muss nun eine Stabilisierung der AHV stehen, einem der Grundpfeiler unseres Sozialversicherungssystems. Die vorgeschlagenen Massnahmen im Rahmen der Vorlage AHV 21 sorgen für eine gewisse Entspannung. Die durch den konjunkturellen Einbruch nun drohenden Einnahmeausfälle werden diese aber rasch verpuffen lassen. In der Konsequenz ist daher nicht nur eine Neujustierung des Reformprojektes AHV 21 angebracht, sondern auch ein Masshalten bei weiteren Ausbauschritten. Mit anderen Worten: es gilt, den Kern des Systems nachhaltig zu sanieren. Die von der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit in ihrer Motion 20.3165 geforderte Standortbestimmung zum schweizerischen Sozialversicherungssystem wird dazu hoffentlich die notwendige Basis liefern. Sie verdient volle Unterstützung.