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- Bern - Pierre-Gabriel Bieri

Mindestlohn: eine Wahl zwischen dem Respekt für die Institutionen und der Sozialpartnerschaft?

Bild zeigt verschiedene Schweizer Münzen. Mindestlohn: Gesetzgebung versus Gesamtarbeitsverträge?

Die in einigen Kantonen festgelegten gesetzlichen Mindestlöhne können einige Bestimmungen der schweizweit geltenden und als allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge (GAV) aushebeln. Die Forderung an den Bund, den Vorrang der Gesamtarbeitsverträge durchzusetzen, ist aus institutioneller Sicht unbefriedigend. Die betroffenen Kantone sollten ihre Gesetzgebung selbst anpassen, indem sie idealerweise auf die Festlegung eines Mindestlohns verzichten oder zumindest dessen subsidiären Charakter klarstellen.

Kantonale Gesetzgebung versus Gesamtarbeitsverträge

Der Ständerat, der noch im letzten Jahr einen einfachen und originellen Vorschlag zur Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen nachlässig ablehnte, scheint nun die Tugenden der Sozialpartnerschaft wiederentdeckt zu haben. Entsprechend nahm der Rat in der ersten Jahreshälfte die Motion Ettlin 20.4738 „Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen“ an. Unter diesem eigentlich sympathischen Titel fordert die Motion, dass im Falle eines Konflikts zwischen einem gesamtschweizerisch allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsvertrag und kantonalen Regelungen in den Bereichen Mindestlohn, 13. Monatslohn oder Ferienanspruch die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages Vorrang haben.

Die Motion befindet sich nun zur Behandlung im Nationalrat, dessen Kommission für Wirtschaft und Abgaben sich mit 11 zu 10 Stimmen dafür ausgesprochen hat. Die Linke und die Gewerkschaften beginnen, sich darüber aufzuregen und prangern in der Presse einen „Angriff der Arbeitgeber“ auf die Mindestlöhne an.

Konkret stellt sich das Problem wie folgt dar: Mehrere Kantone haben unter dem Druck der Forderungen der Linken einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt. Einige dieser Kantone sehen ausdrücklich dessen subsidiären Charakter vor, so dass dieser nur dann gilt, wenn es keinen allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsvertrag gibt. Die Kantone Genf und Neuenburg hingegen kennen keine derartigen Ausnahmen und stehen damit im Widerspruch zum Primat der Sozialpartnerschaft. Das Bundesgericht entschied 2017, dass der Neuenburger Mindestlohn für alle Unternehmen verbindlich ist, selbst wenn diese einem gesamtschweizerisch für allgemeinverbindlich erklärten GAV mit niedrigeren Mindestlöhnen unterliegen.

Angesichts dieser Situation entrüsten sich mehrere Berufsverbände und Arbeitgeberorganisationen zu Recht darüber, dass die Sozialpartnerschaft dadurch partiell ausgehöhlt wird. Beklagt wird auch die dadurch entstehende Rechtsunsicherheit, welche durch die Motion Ettlin behoben werden soll, indem explizit der Vorrang der gesamtschweizerischen Regelungen vor dem kantonalen Recht bekräftigt wird.

Eine institutionelle Einmischung durch eine andere ersetzen?

Selbst wenn man sich vorbehaltlos zur Sozialpartnerschaft bekennt (und dies mit mehr Hartnäckigkeit als der Ständerat) und rigoros gegen jede Form von gesetzlichen Mindestlöhnen ist, muss mit Bedauern festgestellt werden, dass die Motion Ettlin aus institutioneller Sicht inkongruent ist. Auf eine unbefriedigende Situation gibt sie eine unbefriedigende Antwort.

Es reicht nicht aus, zu betonen, dass das Bundesrecht dem kantonalen Recht vorgehen soll, denn hier werden einerseits privatwirtschaftliche Vereinbarungen, denen durch eine Verwaltungsentscheidung Gesetzeskraft verliehen wurde, und andererseits von einem gewählten Parlament verabschiedete und durch eine Volksabstimmung bestätigte Gesetze gegeneinander ausgespielt. Aus institutioneller Sicht ist dies kaum vertretbar. Man ersetzt eine fragwürdige Einmischung einer kantonalen Gesetzgebung in die Sozialpartnerschaft durch eine fragwürdige Einmischung der Bundesgesetzgebung in die kantonale Souveränität. 

Am Ursprung des Übels: der gesetzliche Mindestlohn

Um nicht missverstanden zu werden: Diese Feststellung impliziert keinerlei Sympathien gegenüber den kantonal eingeführten gesetzlichen Mindestlöhnen. Im Gegenteil geht es darum, die institutionelle und rechtliche Unordnung anzuprangern, die durch die Genfer und Neuenburger Gesetzgebungen verursacht wird. Diese führt zu einem Konflikt zwischen der institutionellen Ordnung mit der Sozialpartnerschaft, obwohl sie eigentlich deren Garant sein sollte.

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns verursacht selbst bei einer subsidiären Ausprägung immer schädliche Folgen für die Sozialpartnerschaft, da dadurch viele Branchen davon abgehalten werden, zu verhandeln und zu einer Vereinbarung zu kommen. In diesem Sinne müssen die Kantone unbedingt dazu ermahnt werden, einen solchen Weg nicht zu beschreiten und keine Gesetze in Bereichen zu erlassen, die üblicherweise von Gesamtarbeitsverträgen abgedeckt werden. Ein subsidiär definierter kantonaler Mindestlohn als Ersatz für das Fehlen eines Gesamtarbeitsvertrages ist jedoch das kleinere Übel und vermeidet zumindest einen Konflikt zwischen Rechtsnormen.

In der Konsequenz verbleibt somit aus institutioneller Sicht als einzig angemessene Lösung, dass die Kantone Genf und Neuenburg ihre Gesetze überarbeiten und idealerweise auf einen gesetzlichen Mindestlohn verzichten oder zumindest dessen subsidiären Charakter explizit bekräftigen.

Weiterführende Informationen:

SECO: Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen

BFS: Lohnniveau – Schweiz

BFS: Löhne, Erwerbseinkommen und Arbeitskosten

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Pierre-Gabriel Bieri,
Responsable politique institutions et sécurité

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