- Bern - Martin Kuonen
Institutionelles Abkommen: Ja aus Vernunft
Einer der Vorzüge des institutionellen Abkommens zwischen der Schweiz und der EU ist, neu einen verbindlichen rechtlichen Rahmen vorzugeben und klare verfahrensrechtliche Prozesse zu garantieren. Heute werden solche Fragen häufig aufgrund der herrschenden Machtverhältnisse geregelt. Das Lohnschutzdispositiv sollte angepasst, wenn auch nicht beschnitten werden. Mit etwas Kreativität ist dies möglich.
Sich stellende Fragen, mit oder ohne Abkommen
Seit etwa zehn Jahren drängt die Europäische Union (EU) die Schweiz, ein Abkommen zu institutionellen Fragen abzuschliessen. Dieser Vertrag soll, im Sinne eines Rahmenabkommens, die bilateralen Beziehungen zwischen Bern und Brüssel für bestehende und zukünftige Marktzugangsabkommen regeln. Nachdem der Bundesrat bestimmte nicht zu überschreitende “rote Linien” definierte, hat er die Verhandlungen über ein solches Abkommen abgeschlossen. Der Vertragsentwurf wurde im Dezember 2018 veröffentlicht. Im Moment werden die betroffenen Kreise konsultiert. Anschliessend nimmt sich der Bundesrat bis Frühling 2019 Zeit, um der EU seine Antwort mitzuteilen.
Einige Beobachter kamen rasch zu dem Schluss, angesichts des kumulierten Widerstands von links und rechts habe das Vertragswerk keine Chance, von der Schweiz akzeptiert zu werden. Sieht die SVP die Streitbeilegung durch ein Schiedsgericht als Souveränitätsverlust, lehnen die Gewerkschaften jede Lockerung der Flankierenden Massnahmen zum Personenfreizügigkeitsabkommen kategorisch ab. Aber: Auch ein grosser Teil der Arbeitgeberorganisationen setzt sich für einen wirksamen Lohnschutz ein.
Angesichts der Bedeutung der sich stellenden Fragen – die auch bei Ablehnung des Verhandlungsergebnisses bestehen bleiben – führte Centre Patronal eine repräsentative Umfrage bei Unternehmen und Berufsverbänden im Kanton Waadt und in der Westschweiz durch. Mehr als 100 Antworten gingen ein, die durch die angeschlossenen Verbandsmitglieder die Meinung von Tausenden von Unternehmen reflektieren.
Keine Mitgliedschaft, Unterstützung bilateraler Weg
Wenig überraschend wird die EU-Mitgliedschaft mit fast 90% sehr deutlich abgelehnt. Gleichzeitig sind 93% der Ansicht, die Schweiz könne auf ein privilegiertes Verhältnis mit der EU nicht verzichten. Der Weg, um dieses privilegierte Verhältnis sicher zu stellen, sehen sie in den bilateralen Verträgen. Insbesondere der Zugang zum europäischen Markt wird von 70% als sehr wichtig erachtet. Letztendlich sagen 85 % der Befragten, dass sie dem vorliegenden Rahmenabkommen zustimmen oder eher zustimmen.
Diese Zustimmung bezieht sich explizit auch auf die kontroversen Punkte. Mehr als 80% beurteilen den Streitbeilegungsmechanismus durch ein Schiedsgericht als positiv. Bezüglich Arbeitnehmerschutz hält eine Mehrheit die vorgesehenen Flexibilisierungen für akzeptabel. Dies gilt auch für die Verkürzung der Meldefrist für entsandte Arbeitnehmer auf vier Arbeitstage und den Verzicht, auf die generelle Verpflichtung für ausländische Unternehmen eine Kaution leisten zu müssen.
Rechtlicher Rahmen zur Zähmung von Machtgelüsten
Es gibt objektive Gründe, welche für die Annahme des vorgelegten Abkommens sprechen. Der Wichtigste: Es wird ein verbindlicher rechtlicher Rahmen vorgegeben und verfahrensrechtliche Prozesse werden implementiert. Heute werden solche Fragen häufig aufgrund der herrschenden Machtverhältnisse geregelt – was der Schweiz selten zum Vorteil gereicht. Klar, die Machtverhältnisse würden nicht gänzlich verschwinden. Aber sie würden in institutionelle Mechanismen eingebettet, die mehr Rechtssicherheit böten. Ist die Schweiz nicht bereit, eine Weiterentwicklung des europäischen Rechts zu übernehmen und findet der Gemischte Ausschuss innerhalb von drei Monaten keine Lösung, entscheidet ein Schiedsgericht, das sich aus schweizerischen und europäischen Richtern zusammensetzt. Weigert sich eine Partei, das Urteil des Schiedsgerichts umzusetzen, kann die andere Partei Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese müssen verhältnismässig sein. Die Frage der Verhältnismässigkeit kann erneut dem Schiedsgericht zur Beurteilung vorgelegt werden. Der Mechanismus ist komplex, bietet aber Schutz. Die Schweiz würde wohl nicht jedes Mal obsiegen, hätte aber in Bezug auf die aktuelle Situation weniger zu verlieren.
Das andere zu berücksichtigende Element ist das Lohnschutzdispositiv, welches für die konsultierten Arbeitgeber sehr wichtig ist. Das vorgeschlagene Abkommen würde eine Anpassung dieses Schutzes erfordern, was nicht mit der Beschneidung dessen einhergehen muss. Bei den entsandten Arbeitnehmern bietet der europäische Rechtsrahmen einen Handlungsspielraum, der es der Schweiz ermöglichen würde, kreativ zu sein, sei es in Bezug auf Vorbedingungen, Kontrollen oder strengere Sanktionen. Wirtschaftlich und politisch sollte der Entwurf des Rahmenabkommens weder als Unterwerfung unter die EU noch als Vorzimmer für den Beitritt betrachtet werden, sondern als zielführender Weg zur Fortsetzung und Weiterentwicklung der von der Schweiz gewünschten bilateralen Beziehungen.
Die Unterlagen zur Umfrage von Centre Patronal sind im Internet unter www.centrepatronal.ch/presse in französischer Sprache verfügbar.